Interview zum Thema „Imagination – Die Kraft der Bilder schafft Veränderung“

„Die Welt braucht mehr Visionen!“

Seit ungefähr acht Monaten hält die Corona-Pandemie die Welt in Atem. Die Ökonomie- und Philosophie-Professorin Silja Graupe spricht im Interview mit uns über das Arbeits- und Privatleben der Zukunft und das Konzept der Imagination.

 

Mal bewusst provokant gefragt: Muss man mit Visionen nicht zum Arzt? Was bringt Studierenden Imagination als substantieller Bestandteil eines Studienganges?

Silja Graupe: Imaginationen sind keine Halluzinationen. Sie machen es aber möglich, Gegenwart neu zu entdecken und zudem Zukunftsbilder zu entwerfen, die das Noch-Nie-Dagewesene und damit eine offene Zukunft vorstellbar machen. Richtig ist, dass man die Fähigkeit zur Imagination nicht braucht, solange man sich auf alte Gewohnheiten der Weltwahrnehmung verlassen kann. Banal gesagt, spart es schlicht Zeit, wenn ich morgens im Badezimmer einfach zu diesem länglichen Ding mit Borsten vorne dran greife, eine Zahnbürste darin erkenne und mir damit die Zähne schrubbe. Das kann gerne Jahrzehnte so weitergehen. Aber erinnern Sie sich an dieses faszinierende Foto von vor ein paar Jahren, das ein im Meer treibendes Plastik-Wattestäbchen zeigte, an das sich ein Seepferdchen klammerte? Es macht mit einem Schlag deutlich: Was wir in unseren privaten Badezimmern tun, ist bis hin zum kleinsten Meeresbewohner relevant. Und wenn wir etwas für die Umwelt tun wollen, dann müssen wir uns genau solche Bilder von diesen Zusammenhängen machen und auf ihrer Basis handeln können. Studiengänge, die die hierfür notwendigen gestalterischen Fähigkeiten vermitteln und die Verantwortung, die mit ihnen einhergehen, tragen lehren, halte ich für hochgradig relevant in einer komplexen Welt wie der unseren.

 

Imagination, als Einbildungskraft verstanden, ist bei den Philosophen Kant, Hegel und Fichte bereits selbstverständlicher Bestandteil derer Theorien. Wird die Befähigung hierzu in einer Wirtschaftswelt zunehmend wichtiger oder war Sie eigentlich immer schon Bestandteil davon, ohne dass wir es heute noch bemerken?

Graupe: Imaginationen sind ganz wesentliche Treiber wirtschaftlicher Entwicklung. Der Soziologe Jens Beckert spricht etwa davon, dass fiktionale Erwartungen und nicht etwa eherne Gesetze oder gar Sachzwänge den Kurs der Wirtschaft bestimmen: Menschen handeln gerade auch in der Ökonomie auf der Basis dessen, was noch nicht ist, sich aber bereits vorgestellt werden kann. Und Innovationen beruhen oft darauf, dass Menschen in der Welt etwas entdecken, das zuvor schlichtweg verborgen blieb. Doch leider überlassen wir dies meist eher dem Zufall, oder glauben daran, es fiele nur wenigen Genies gleichsam von Natur aus zu. Imagination aber lässt sich tatsächlich lernen. Damit meine ich beileibe nicht nur, mit fiktiven Erwartungen den Bereich des Marketings aufzuhübschen. Imaginationen benötigen wir vor allem auch in den Bereichen der Wirtschaftspolitik und in der Frage, was eigentlich die Ziele unseres Wirtschaftens sein sollten.

 

Mal Imagination mit Vorstellungskraft, Ideenreichtum, Vorstellungsvermögen gleichgesetzt, ist das nicht eher wie Kreativität zu verstehen? Kann man Kreativität lernen, geschweige denn studieren und ist sie nicht eher musischen Themen zuzuordnen?

Graupe: Ja, gewiss. Das Thema der Imagination ist äußerst komplex, und es ist dringend notwendig, es aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und mit Hilfe unterschiedlicher Begriffe zu fassen. Imagination meint aber zunächst ganz einfach, gleichsam hinter den Schleier festgefügter und scheinbar unverrückbarer Wahrnehmungsbilder schauen und dort produktiv tätig werden zu können. Sie ist damit eine Form der Kreativität, die die Grundfesten aller handlungsleitenden Wahrnehmung erschüttern und neu errichten kann. Richtig ist, dass diese Fähigkeit heute – wenn überhaupt – eher im Bereich der Künste angesiedelt ist und folglich auch nur dort geschult wird. Natürlich gehört sie dort auch hin – aber eben nicht nur. Sehen Sie, noch vor wenigen Wochen wussten wir nicht oder kaum zu imaginieren, dass wir Menschen immer auch Atemwolken ausstoßende Wesen sind. Doch Fakt ist, dass die Gestaltung, Lenkung und Begrenzung dieser Atemwolken in Zeiten einer Pandemie entscheidend für das gesellschaftliche Leben oder gar Überleben geworden ist. Dies alles zu können ist aber kein Zufall; man kann es sehr wohl lernen. Unser aller Überleben hängt von diesen Fähigkeiten ab.

 

Spätestens nach Einstein, dem folgendes Zitat zugeschrieben wird „Phantasie ist wichtiger als Wissen. […] Sie ist, im wahrsten Sinne des Wortes, ein realer Faktor der wissenschaftlichen Forschung.“, sollte doch Imagination fester Bestandteil jeglicher Forschung und Lehre an Hochschulen sein, oder?

Graupe: Ja, das sollte sie sein, ist es aber leider nicht. Kurz gesagt, ist Imagination die Fähigkeit, sich aus eigenen Erfahrungen und Sinneseindrücken konkrete Bilder der Welt zu machen. Auf Basis lässt sich sodann lernen, realitätsnah zu handeln und bewusst Urteile zu bilden. Die Imagination schafft also gleichsam den fruchtbaren Boden, auf dem Menschen kreativ und praxisnah ihr eigenes Leben ebenso wie die Gesellschaft im Ganzen gestalten können. Doch heutzutage lernt man an den Hochschulen nicht oder kaum, diesen Boden zu bestellen. Stattdessen baut das akademische Wissen großenteils auf festgefügten Bildern auf, über die bereits in der Vergangenheit bestimmt und entschieden wurde, und zwar ohne dass dies kritisch reflektiert würde. Auf diese Weise entsteht eine Art imaginativer Monokultur. Aus einer solchen können aber nur einseitige Wissensbestände erwachsen, die auf konkrete Veränderungsprozesse in der Wirklichkeit nicht eingehen können und insofern äußerst krisenanfällig sind.

 

Ganz praktisch gefragt: Was werde ich für einen Arbeitsplatz haben in dem ich meine im Studium erworbenes Wissen, mit dem Teilfokus auf Imagination, anwenden kann?

Graupe: Nehmen wir ein konkretes Beispiel aus meinem Bereich, den Hochschulen. Als sich im März der Lockdown abzeichnete, verfielen die meisten Universitäten zunächst in Ungläubigkeit, dann in Schockstarre. Man verschob den Semesterstart, tat zunächst nichts und füllte dann alte Wissensinhalte in neue digitale Schläuche. Im Endeffekt ist die Lehre schlechter geworden als zuvor. In Imagination geschult zu sein, hat mir hingegen als für die Lehre an meiner Hochschule zuständige Vizepräsidentin akut geholfen. Wie wird sich Gesellschaft unter einer Pandemie entwickeln? Einfache Szenarien ließen mich rasch erkennen, dass Abwarten keine Alternative war. Und dann hieß es für mich unmittelbar: Welche neuen Herausforderungen und Chancen stecken in der Krise? Wir haben dann rasend schnell nicht nur Sicherheit für unsere Studierenden geschaffen und als eine der allerersten Hochschulen alle Lehrveranstaltungen digitalisiert, sondern auch neue Lehrformen und -inhalte entworfen, um mit unseren Studierenden die Krise zu erforschen und so ein ganz neues Lernen in Bezug auf die Wahrnehmung und Gestaltung komplexer und unsicherer Situation zu machen. Nicht zuletzt haben wir dafür viel Geld eingeworben und mittlerweile drei große Forschungsprojekte auf den Weg gebracht. „Lernen in Krisenzeiten“, „Lernen nicht trotz, sondern inmitten von Krisen“ – dies alles sind nun Bilder neuer und, wie ich finde, extrem zeitgemäßer Bildungsformen, die wir innerhalb weniger Monate geschaffen haben. Heute sind wir fähig, uns explizit als Bildungseinrichtung zu imaginieren, in der Lehrende und Lernende gemeinsam an Krisen stark werden und sie gemeinsam bewältigen dürfen. In der Wirtschaft würde man sagen, dass ein neuer Purpose, ein neuer Sinn und Zweck entstanden ist.

 

Haben wir, als Menschen und Gesellschaft, bei all den zum Konsum angebotenen Imaginations-Konserven der Streaming-Dienste, Content-Plattformen und Sozialen Medien die innere Verbindung zur eigenen Vorstellungskraft verloren und sind damit vom Macher zum reinen Follower geschrumpft?

Graupe: Ja, das ist in der Tat eine Gefahr. Vereinfacht gesprochen, drohen wir uns mit dem Konsum der von Ihnen angesprochenen Medien zu bloßen Zweitverwertern gegebener Bilder zu degradieren. Der Zugang zu einer Realität, aus der wir mittels bewusster Sinneswahrnehmung neue Bilder schöpfen könnten, bleibt uns hingegen verwehrt. Allenfalls lassen sich fertige Bilder neu kombinieren. Eine befreundete Künstlerin macht mit Schülerinnen und Schülern gerne ein einfaches Experiment. Sie hält ein Foto von einem Turnschuh hoch und fragt, was es sei. Die jungen Menschen antworten natürlich spontan: ein Turnschuh. Dann hält sie einen echten Turnschuh hoch und wiederholt die Frage. Nach anfänglicher Verwirrung wird dann schnell klar, dass das Bild vom Turnschuh meist nur weitere Erinnerungsbilder an Kataloge und Konsumtempel hervorruft; der echte Turnschuh aber wird assoziiert mit einem gewonnenen Basketballspiel, einer wohligen Erschöpfung nach einer langen Wanderung mit Freunden – also mit Erlebnissen, die die jungen Menschen aktiv mitgestalten und deren Ergebnis sie beeinflussen konnten.

 

Ist Imagination also nur etwas für philosophisch vorgebildete, Intellektuelle und hochbegabte Überflieger oder kann ich mir als gestandener Manager Kenntnisse und Fähigkeiten, zum Nutzen meiner Arbeit und meines Unternehmens, immer noch aneignen?

Graupe: Nicolaus Cusanus, Namensgeber meiner Hochschule und einer der großen Universalgelehrten der Renaissance, hat stets betont, dass es gerade der Laie ist, der zu großer Weisheit fähig ist. Der Grund dafür ist, dass seine Imaginationsfähigkeit tatsächlich aus der Realität, aus dem unmittelbaren Leben und Umgang mit den Dingen und Mitmenschen erwächst. Die Intellektuellen hingehen verfügen zwar auch über Vorstellungskräfte – aber sie ziehen diese eher aus abstrakten Scheinwelten – in der Ökonomie etwa zumeist aus mathematischen Modellen und statistisch ausgewerteten Daten. Allgemeiner gesagt: Die Quelle wirklicher Imagination liegt dort, wo Menschen konkret Dinge herstellen und sich gemeinsam für Visionen und Ziele engagieren. Nur leider fehlen die Schulen und Hochschulen, die lehren, diese Quelle auch wirklich zu fassen und ihr Ausdruck und Form zu geben. Theorie und Praxis treten so immer weiter auseinander. Das aber muss nicht sein: Gute Theorie vermag der der imaginativen Praxis zu ihrer eigentlichen Ausdrucks- und Mitteilungsfähigkeit zu verhelfen. So kann es gesellschaftlich zu geteilten Imaginationen und damit zu neuen zukunftsleitenden und letztlich auch zukunftgestaltenden Bildern kommen.

 

 

 

Über unseren Gast:
Silja Graupe ist Professorin für Ökonomie und Philosophie, sowie Gründerin und Vizepräsidentin der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung.

 

Dieses Interview ist als Gastbeitrag am 15. September 2020 im Das Investment – Denker der Wirtschaft erschienen.

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